Die Tierhaltung in der EU wird drastisch zurückgehen, ebenso wie der Konsum tierischer Produkte. Dieses Szenario entwirft eine neue Studie¹ von Agora Agrar, die am 10. September veröffentlicht wurde. Sie untersucht, wie Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Ernährung in der EU bis 2045 zur Klimaneutralität beitragen können.
Das Jahr 2045 wurde gewählt, weil Deutschland bis dahin laut Klimaschutzgesetz treibhausgasneutral werden will². Die EU strebt dieses Ziel bis 2050 an. In der Studie wird zwar nur eine Reduktion der landwirtschaftlichen Emissionen um 60 % erreicht, doch die Autor*innen sprechen trotzdem von Klimaneutralität. Das liegt an zusätzlichen Maßnahmen, wie der Speicherung von Kohlenstoff in Wäldern und Agrarlandschaften. Diese Maßnahmen sollen die restlichen 40 % der Emissionen sowie Emissionen aus anderen Bereichen ausgleichen.
Agora Agrar hat Szenarien für sechs Bereiche entworfen: Biomasse, Lebensmittelnachfrage, Tierhaltung, Ackerbau, Landwirtschaft auf Moorböden und Forstwirtschaft. Wir stellen hier die Kapitel zu Lebensmittelnachfrage und Tierhaltung in den Fokus und fassen die wichtigsten Punkte kurz zusammen.
Mehr Pflanzen, weniger Tierprodukte
Im Szenario für eine klimaneutrale Ernährung in 20 Jahren zeigt sich ein klarer Trend zu einer pflanzenbasierten Ernährung. Der Fleischkonsum würde um 51 %, der Konsum von Milchprodukten um 43 %, Eier um 42 % und Fisch um 30 % zurückgehen. Besonders Rind- und Schweinefleisch würden stark reduziert. Im Jahr 2045 würden nur noch 21 % der Energiezufuhr und 38 % der Proteine aus tierischen Quellen kommen, im Vergleich zu 38 % bzw. 70 % im Jahr 2020.
Die Autor*innen nehmen für das Szenario an, dass 80 % der Lebensmittelnachfrage den Empfehlungen der Planetary Health Diet entsprechen würden und die restlichen 20 % noch den aktuellen Gewohnheiten folgen. Diese Annahme wird in der Studie leider nicht weiter begründet.
Deutliche Reduktion der Tierzahlen
Mit dem geringeren Konsum tierischer Produkte sehen die Autor*innen auch eine starke Reduktion der Tierhaltung in der EU bis 2045. In dem Szenario würden 2045 etwa 70 % weniger Schweine, 52 % weniger Rinder und 28 % weniger Geflügel gehalten werden als im Jahr 2020.
Die Emissionen aus der Tierhaltung würden bis 2045 zu 81 % durch weniger Tiere und zu 19 % durch Maßnahmen wie veränderte Fütterung und Züchtung gesenkt. Insgesamt sieht das Szenario eine Reduktion der Treibhausgase aus der Tierhaltung um 67 % vor – von 282 Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten im Jahr 2020 auf 93 Millionen Tonnen im Jahr 2045. Besonders stark würden die Methan-Emissionen von Wiederkäuern sinken. Dies wäre kurzfristig wichtig für den Klimaschutz, da Methan eine starke Erwärmungswirkung hat, aber nur kurz in der Atmosphäre bleibt.
Das Szenario von Agora Agrar zeigt, wie stark der Konsum und die Produktion tierischer Produkte zurückgehen müssen, damit die Landwirtschaft zu einer klimafreundlichen und nachhaltigen EU beitragen kann.
Ungenutztes Transformationspotenzial
Wir sehen an einigen Punkten ein ungenutztes Potenzial. Diese Punkte der Studie bzw. des entworfenen Szenarios ordnen wir im Folgenden ein.
Da die Studie nur die Klimaneutralität innerhalb der EU betrachtet, bleiben wichtige Teile der Treibhausgas-Emissionen unberücksichtigt – besonders die Futtermittel- und Düngemittelimporte aus Nicht-EU-Ländern, die hohe Emissionen verursachen. Denn in den nationalen Emissionsbilanzen tauchen nur die Emissionen auf, die innerhalb der EU entstehen. Die Emissionsverlagerung ins nicht-EU Ausland taucht in den Bilanzen nicht auf. Das heißt: um die Landwirtschaft in der EU wirklich klimaneutral zu machen, müssten die Emissionen weiter sinken und die Importe von Futter- und Düngemitteln reduziert werden. Das würde eine noch stärkere Senkung der Tierzahlen erfordern.
Ferner entspricht im Szenario nur 80 % der Lebensmittelnachfrage den Vorgaben der Planetary Health Diet. Warum keine vollständige Umsetzung vorgesehen ist, wird nicht erklärt, daher bleiben die genauen Gründe unklar. Ein solcher Ernährungs-Mix würde zwar erhebliche Mengen Treibhausgase und Agrarland einsparen, wäre allerdings noch nicht ausreichend, um 2050 die Weltbevölkerung zu ernähren und gleichzeitig die planetaren Grenzen einzuhalten.
Obwohl die Studie das Potenzial alternativer Proteine und die Notwendigkeit ihrer Förderung anspricht, werden sie nicht explizit im Szenario zur zukünftigen Lebensmittelnachfrage berücksichtigt. Als Grund werden Unsicherheiten bezüglich des Marktwachstums und der Nachhaltigkeit der Herstellung genannt. Hier sehen wir eine verpasste Chance, da alternative Proteinquellen, wie tierfreie Milchprodukte aus Präzisionsfermentation³ oder Mykoproteine aus Pilzen⁴, vermutlich weiter an Relevanz gewinnen werden. Sie könnten einen wichtigen Beitrag zu einer nachhaltigen Ernährung leisten⁵.
Ein weiterer Kritikpunkt sind die nicht ausreichenden Bestrebungen zu Tierwohl. Die genannten Verbesserungen beschränken sich auf mehr Platz, bessere Umgebungen, Zugang zu Freigehegen und die Möglichkeit, arttypisches Verhalten zu zeigen. Zudem sollen unnötige Eingriffe, wie das Kupieren von Schwänzen bei Schweinen, weitgehend abgeschafft werden. Auch wenn diese Maßnahmen eine Verbesserung gegenüber den aktuellen Bedingungen darstellen, gäbe es in diesem Szenario dennoch weiterhin erhebliches Tierleid.
Beispielsweise würde die Anbindehaltung von Rindern, die bereits heute gegen das deutsche Tierschutzgesetz verstößt⁶, teilweise noch existieren und der Zugang zu Freigehegen wird nicht konsequent für alle Tiere vorgeschlagen. Eine explizite Verbesserung der Bedingungen bei Tiertransporten oder Schlachtung ist ebenfalls kein Teil des Szenarios. Grausame Praktiken wie die Zwangsfütterung von Gänsen zur Herstellung von Stopfleber⁷ werden nicht erwähnt.
Auch die geplanten Emissionseinsparungen durch Züchtung und veränderte Fütterung bedeuten oft Leid für die Tiere, sei es durch schmerzhafte Tierversuche oder Qualzuchten, wie sie bereits heute zur Effizienzsteigerung genutzt werden⁸ ⁹. Der Tierschutz wurde in diesem Szenario nicht ausreichend bedacht, obwohl er ein zentraler Bestandteil einer Transformation der Landwirtschaft sein sollte.
Klare Botschaft
Die vorgestellte Studie gibt einen spannenden Einblick in ein mögliches Ernährungssystem der EU im Jahr 2045. Besonders die geplante starke Reduktion der Tierzahlen und das Einsparpotenzial bei den Emissionen durch diese Reduktion sind wertvolle Beiträge, die die Notwendigkeit eines pflanzenbasierten Ernährungssystems betonen. Dennoch sollten in diesem Szenario die Themen Emissionsverlagerung, alternative Proteine und Tierschutz stärker berücksichtigt werden. Die Botschaft ist aber klar: Tierzahlen und Konsum tierischer Produkte müssen sinken!
Quellen:
¹ Agora Agriculture (2024): Agriculture, forestry and food in a climate neutral EU. The land use sectorsas part of a sustainable food system and bioeconomy.
² Die Bundesregierung (2022): Generationenvertrag für das Klima. Über: https://www.bundesregierung.de/breg-de/schwerpunkte/klimaschutz/klimaschutzgesetz-2021-1913672
³ Zukunftsinstitut (2024): Präzisionsfermentation: Großes Potenzial für neue Lebensmittel. Über: https://www.zukunftsinstitut.de/zukunftsthemen/praezisionsfermentation-fantastische-geschmackswelten
⁴ Kreutz, H., BZfE (2022): Alternative Proteinquellen. Über: https://www.bzfe.de/service/news/aktuelle-meldungen/news-archiv/meldungen-2022/september/alternative-proteinquellen/
⁵ EPRS, Scientific Foresight Unit (2024): Alternative protein sources for food and feed. Study. Panel for the Future of Science and Technology. Über: https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2024/757806/EPRS_STU(2024)757806_EN.pdf
⁶ Bülte, J., Hahn, J. & Troxler, J. (2023): Anbindehaltung – Keine rechtliche Grauzone, sondern illegale Routine. Über: https://verfassungsblog.de/anbindehaltung-keine-rechtliche-grauzone-sondern-illegale-routine/
⁷ Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt (o.J.a): Gänse. Über: https://albert-schweitzer-stiftung.de/massentierhaltung/gaense
⁸ Agroscope (2014): Factsheet Kühe mit Fisteln. Über: https://www.agroscope.admin.ch/dam/agroscope/de/dokumente/themen/nutztiere/wiederkaeuer/faq-fistelkuehe.pdf.download.pdf/2014_Factsheet_FragenAntworten_Fistelkuh.pdf
⁹ Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt (o.J.b) : Milchkühe. Über: https://albert-schweitzer-stiftung.de/massentierhaltung/rinder/milchkuehe